Togo

Das war einer jener Vorfälle, die für gewöhnlich auf den Farbseiten des Domenica del Cotriere landen. Doch keine Zeitung erwähnte ihn auch nur. Denn es gab da besondere Umstände, die die Leute im Ort veranlaßten, so zu tun, als hätten sie nichts gesehen und nichts gehört.

Es war am Nachmittag von Silvester, und in allen Häusern war man dabei, das große Mitternachtsessen und die Verabschiedung des alten Jahres vorzubereiten. Wer nicht zu Hause blieb, schlenderte durchs Dorf und pendelte von einem Weinausschank zum anderen oder lungerte unter den Laubengängen herum.

Die Kinder waren schon seit dem frühen Morgen nicht mehr zu halten, und sie vertrieben sich die Wartezeit bis zum Schlußspektakel, indem sie vorzeitig ein paar Knallfrösche und Feuerwerkskörper opferten. Auf der Tenne bei den Rosi war ein halbes Regiment Kinder versammelt, und trotz des Gebrülls der Erwachsenen wurde genauso herumgeknallt wie an allen anderen Orten.

Als es jedoch Zeit wurde, das Vieh aus dem Stall zur Tränke zu führen, trat der alte Rosi mitten auf die Tenne und verkündete, wenn er jetzt auch nur noch einen einzigen Knall höre, werde er die ganze Bande mit dem Riemen verdreschen.

Die Kinder hörten mit dem Lärm auf, und die Tiere konnten in Ruhe trinken. Aber gerade als die Reihe an Togo kam, ging hinter dem Geräteschuppen so ein verdammtes Feuerrad los, zischte über die Tenne und explodierte auf Togos Maul,

Togo war ein kolossaler Stier, eine Art Panzer aus Fleisch, dessen bloßer Anblick einem schon Angst einjagte.

Als er fühlte, wie auf seinem Maul die Hölle losging. drehte er durch.

Mit einem Satz riß er sich vom Knecht los, zerschmetterte die dicke Holzstange. die man über die Toreinfahrt gelegt hatte, und war im Nu auf der Straße.

Die Tenne der Rosi lag sozusagen mitten im Dorf: nach fünfzig Metern zwängte sich die Straße zwischen die Häuser, und nach weiteren hundert Schritten war man auf der Piazza.

Bis sieh die Rosi also von dem Schock erholt hatten und die Verfolgung aufnahmen, stürmte Togo bereits wie ein Blitz auf die Piazza.

Was nun geschah, dauerte bloß ein paar Sekunden und ließ sich hinterher nur schwer rekonstruieren: Togo war gerade im Begriff, seine Wut an einer Gruppe kreischender Frauen auszulassen, die zwischen einer Häuserwand und zwei großen parkenden Lastwagen eingekeilt standen, als der Polizeichef von wer weiß woher mit der Pistole in der Hand auftauchte und sich dem Stier in den Weg stellte.

Der Maresciallo schoß, streifte Togo aber nur, und das machte die Bestie noch wütender als zuvor.

Für den Maresciallo und für die in der Falle sitzenden Frauen schien das letzte Stündlein geschlagen zu haben. Nur eine Maschinenpistolensalve in Togos Schädel hätte den Amoklauf des rasenden Stiers noch aufhalten können.

Und tatsächlich: die Salve kam im rechten Augenblick.

Man weiß nicht, von wo, aber sie kam, und das Untier brach unmittelbar vor den Füßen des Polizeichefs zusammen.

Der Polizeichef steckte seine Pistole in die Tasche zurück, nahm die Mütze ab und trocknete sich die schweißgebadete Stirn, Dann blickte er reglos auf das leblose Tier. Um ihn herum herrschte ein höllisches Durcheinander, und die Frauen kreischten, als würden sie immer noch von Togo bedroht. Aber der Polizeichef hörte nichts als das Knattern der Maschinenpistole.

Die Waffe hatte ihre blitzschnelle Salve von sich gegeben und dann geschwiegen, aber für den Maresciallo schoß sie noch immer. Er war sicher, wenn er sich jetzt umdrehte und nach oben schaute, würde er ganz genau das Fenster ausmachen können, aus dem die Salve abgefeuert worden war.

Und deswegen schwitzte der Maresciallo. Nicht weil ihm die Gefahr solche Angst eingejagt hätte, sondern weil er fühlte, daß er sich umdrehen mußte, und dazu hatte er nicht den Mut.

Er drehte sich nicht um.

In Wirklichkeit konnte er sich auch gar nicht umdrehen, weil er sich von einem riesigen Kerl gepackt sah - es war Don Camillo.

«Bravo, Herr Maresciallo, bravo!» brüllte Don Camillo. «Alle diese Menschen verdanken Ihnen ihr Leben!»

«Er war wirklich sehr mutig!» kreischte eine schwachsinnige alte Frau. «Aber wenn der andere nicht geschossen hätte, der mit der... »

Sie wollte sagen «mit der Maschinenpistole», aber sie kam nicht dazu, denn jemand trat ihr so kräftig auf den Fuß, daß ihr schwarz vor den Augen wurde. Und die Menge verschluckte sie sofort.

«Brave, Herr Polizeichef!» riefen die Leute. <Brave, bravissimo!»

Don Camillo zog sich ins Pfarrhaus zurück und wartete ruhig darauf, daß der Maresciallo wieder auf der Bildfläche erscheine.

Und tatsächlich, nach etwa einer Stunde erschien er,

«Hochwürden», sagte der Maresciallo. «Sie sind der einzige Mensch, mit dem ich offen reden kann! Wollen Sie mich anhören?»

«Dazu bin ich hier», erwiderte Don Camilllo und ließ ihn vor dem Kaminfeuer Platz nehmen.

«Hochwürden», begann der Maresciallo nach kurzem Schweigen, «haben Sie den ganzen Vorgang beobachtet? »

«Ja, ich bin in dem Moment aus dem Tabakladen gekommen, wo ich mir Briefmarken gekauft hatte. Ich habe alles ganz genau gesehen: Wie Sie sich vor die Bestie geworfen, wie Sie geschossen und wie Sie das Tier erledigt haben.»

Der Maresciallo schüttelte lächelnd den Kopf: «Sie haben tatsächlich gesehen, wie ich mit einer normalen Pistole auf den Stier geschossen und ihn mit einer Maschinenpistole erledigt habe?»

Don Camillo hob die Arme: «Maresciallo, ich verstehe nichts von Waffen und von Ballistik. Ich weiß nur, daß Sie eine Feuerwaffe in der Hand hatten, aber ich könnte nie mit Sicherheit sagen. um weiche Waffe es sich dabei handelte.»

«Ich verstehe», murmelte der Polizeichef. «Sie wollen also sagen, daß Sie nicht in der Lage sind, einen einfachen Pistolenschuß von einer Maschinenpistolensalve zu unterscheiden?»

«Im Priesterseminar werden solche Dinge nicht gelehrt,»

«Auf der Polizeischule dagegen schon», beharrte der Maresciallo. «Und daher ist es meine verdammte Pflicht zu wissen daß dieses Tier, auf das ich mit meiner Dienstwaffe geschossen habe, durch eine Maschinenpistolensalve getötet wurde.»

«Herr Polizeichef, wenn Sie das behaupten, kann ich nichts dagegen sagen. Das fällt nicht in mein Fach. Aber das Wichtigste ist doch, daß der Stier getötet wurde, bevor er Sie und die armen Weiber, die hinter Ihnen standen, aufschlitzen konnte! Ich finde, man sollte daraus nicht eine ballistische Streitfrage machen.»

Der Maresciallo seufzte: «Hochwürden. diese Maschinenpistolensalve hat mir und einigen anderen Leuten das Leben gerettet, das steht außer Zweifel. Aber es steht auch außer Zweifel, daß eine Maschinenpistolensalve eben aus nichts anderem als einer Maschinenpistole stammen kann.»

Don Camillo zuckte die Achseln: «Maresciallo, wie gesagt, ich verstehe nichts von Feuerwaffen, aber wenn ich mir eine Meinung erlauben darf, so würde ich sagen, daß das, was Sie als Maschinenpistolensalve bezeichnen, beispielsweise auch aus einem mit Kugeln geladenen Jagdgewehr stammen könnte. Ich sehe keinen Grund, warum es Ihre Vorgesetzten merkwürdig finden sollten, daß man einen wildgewordenen Stier mit einer Doppelflinte erlegt.»

«Wenn es nur darum ginge, die Sache meinen Vorgesetzten zu erklären, dann könnte die These mit der Jagdflinte ausreichen», erwiderte der Maresciallo. «Aber was soll ich tun, um sie mir selbst zu erklären? Sehen Sie, Hochwürden, ein Polizist ist nie allein, er hat immer noch einen Maresciallo hier drinnen.»

Dabei klopfte er sich an die Brust, und Don Camillo antwortete lächelnd: «Und wenn Sie jetzt tot wären, wo befände sich dann der Polizist, den Sie da drin haben?»

«Der wäre auch tot. Aber ich bin nicht tot, und der Polizist, den ich da drin habe, sagt mir: «Es gibt jemanden im Ort, der eine tadellos funktionierende Maschinenpistole besitzt. Das stellt einen schweren Verstoß gegen das Gesetz dar: Du mußt einschreiten!»>

Don Camillo hatte sich die übliche halbe Toskanozigarre angezündet und zog ein paarmal daran.

«MaresciaIlo, es bringt nichts, wenn wir dauernd um den heißen Brei herumreden. Sprechen Sie offen. Wenn Sie gegen mich einen Verdacht hegen, dann schreiten Sie ein. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, zu Ihrer und der Ihres inneren Polizisten»

«Spaß beiseite, Hochwürden. Ich weiß genau, wer die Maschinenpistolensalve abgefeuert hat. Und Sie wissen es auch. Sie wissen es sogar noch besser als ich, weil Sie ihn gesehen haben.»

Don Camillo blickte dem Polizeichef in die Augen.

«Sie haben sich in der Tür geirrt», sagte er hart. «Für diese Art von Information wenden Sie sich überallhin, nur nicht an mich. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann zeigen Sie mich doch an! Ich hab‘ hier drin zwar keinen Maresciallo, aber mein Gewissen, und das kann Ihnen und Ihrem Polizisten eine Menge beibringen.»

«Es wird uns nie beibringen können, daß ein gewöhnlicher Bürger, der noch dazu der örtliche Anführer von Revolution und Volksjustiz ist, eine Maschinenpistole besitzen darf!» schrie der Maresciallo.

«Ich will weder etwas von örtlichen Anführern noch von Revolutionen wissen», erwiderte Don Camillo. «Ich will Ihnen nur klarmachen, daß mein Beruf nicht der eines Spitzels ist. Und wenn Sie sich von mir eine Denunziation erhoffen, können Sie gleich wieder gehen.»

Der Polizeichef schüttelte den Kopf: «ich wollte von Ihnen bloß hören, wie ein anständiger Mensch jemanden anzeigen soll, der ihm und anderen das Leben gerettet hat. Und ich wollte auch hören, wie derselbe anständige Mensch einen Waffenbesitzer, der eine ernste Gefahr für das Gemeinwesen darstellt, nicht anzeigen soll.»

Don Camillos Zorn verrauchte.

«Maresciallo, die Gefahr ist nicht der Waffenbesitzer. sondern die Waffe. Man muß sich vor Augen halten, daß man diese sogenannte Maschinenpistole aus Gründen der politischen Polemik zu sehr hochgespielt hat. Die MP ist eine furchtbare, mörderische Waffe, aber das heißt noch nicht, daß jeder, der eine MP besitzt, ein Mörder ist, eine Gefahr für die Gesellschaft. Für die Gesellschaft kann der Besitzer eines Nagels oder eines Küchenmessers gefährlicher sein. Und für einen, der gekämpft hat, wird die Waffe schließlich zu einem liebgewordenen Gegenstand. zu einem Erinnerungsstück an eine ehrenvolle Vergangenheit. an harte, entbehrungsreiche Tage, voll Opfermut, Glauben. Hoffnung . .

«Ich verstehe», unterbrach ihn der Maresciallo. «Ein ‚Souvenir‘, ein glattpoliertes Andenken, das mit einer Salve den größten Stier des ganzen Bezirks niedermähen kann.

«Und damit einen Polizeichef und verschiedene Bürger vor dem Tod bewahren», fügte Don Camillo hinzu.

Der Maresciallo stand auf.

«Hochwürden», rief er, «ich kann den Besitzer der Maschinenpistole suchen, und ich kann ihn möglicherweise nicht finden. Was ich aber um jeden Preis finden muß, ist die Maschinenpistole.»

Auch Don Camillo erhob sich:

«Sie werden die Maschinenpistole finden. Dafür verbürge ich mich. Ich werde sie Ihnen selbst überbringen.»

Nachdem der Polizeichef gegangen war, flog Don Camillo zu Peppone in die Wohnung.

«Den Stier hast du getötet, bravo! Aber jetzt her mit der MP!»

Peppone schaute ihn erstaunt an: «Was redet Ihr für Zeug, Hochwürden?»

«Peppone, der Polizeichef weiß, daß du es warst, der geschossen hat. Auch wenn du ihm das Leben gerettet hast, ist es seine Pflicht, dich wegen unerlaubten Waffenbesitzes aus dem Krieg anzuzeigen... »

«Der Maresciallo spinnt ja», grinste Peppone. «Er kann überhaupt nichts wissen, aus dem einfachen Grund, weil ich weder eine Waffe besitze noch auch nur im Traum daran dächte, auf Stiere zu schießen.»

«Peppone, hör auf, dich lustig zu machen! Du hast geschossen. Ich hab‘ dich gesehen, mit diesen meinen Augen.»

«Dann geht doch hin und erzählt es dem Maresciallo! Warum kommt Ihr hierher und erzählt es mir?»

«Ich bin kein Spitzel, ich bin ein Diener Gottes, und Gott hat es nicht nötig, von mir darüber informiert zu werden, was hier oder anderswo passiert.»

Peppone schüttelte den Kopf: «Ihr seid ein Diener des Vatikans und Amerikas, und deshalb versucht Ihr auf jede Weise, einen ehrlichen Mann hereinzulegen.»

Don Camillo hatte beschlossen, sich auf keinerlei politische Provokation einzulassen, und erwiderte daher nichts darauf. Statt dessen versuchte er, Peppone die seelische Zwangslage des Maresciallo in allen Farben zu schildern. Er bat, flehte, beschwor.

Aber Peppone antwortete ihm nur mit höhnischem Grinsen: «Ich verstehe überhaupt nicht, worauf Ihr anspielt. Ich weiß weder etwas von Maschinenpistolen. noch von Stieren, noch von Polizisten. Vielleicht habt Ihr anderswo mehr Glück. Versucht es doch mal beim Pfarrer: Wenn Ihr lang genug bohrt, rückt der bestimmt mit einer MP heraus.»

Mit betrübtem Herzen verließ Don Camillo Peppones Haus.

«Es tut mir nicht leid für dich, wenn man dich anzeigt». sagte er noch, bevor er wegging. «Dir geschieht es recht, denn du bist ein schlechter Kerl. Aber mir tut der Maresciallo leid, der dem, der ihm das Leben und seinen Kindern das Brot gerettet hat, seine Tat mit einer Anzeige vergelten muß.»

«Darauf könnt ihr Euch verlassen», rief ihm Peppone grinsend nach, «wenn ich eine MP gehabt hätte, wie ihr es behauptet, dann hätte ich nicht auf den Stier, sondern auf den Polizisten geschossen!»

Wieder zu Hause. konnte Don Camillo keine Ruhe finden, und er ging rastlos in der kalten Diele des Pfarrhauses auf und ab. Schließlich faßte er einen Entschluß und stürmte die Treppen hinauf. Der große, staubige Dachboden war vollkommen dunkel, aber Don Camillo brauchte kein Licht, um zu finden, was er suchte.

Tatsächlich fand er rasch den Kamin, der zum Dachfirst hochging. Und er fand den berühmten Ziegel, den man rechts hineindrücken und dann am linken Ende herausziehen konnte. Nachdem er ihn weggenommen hatte, fuhr Don Camillo mit dem Arm in das Loch und tastete mit der Hand, bis er den Nagel zwischen den Fingern spürte. Am Nagel war ein Eisendraht befestigt. Er löste ihn und begann daran zu ziehen, wobei er mit der anderen Hand nachhalf. Schließlich fühlte er das längliche Paket.

Nachdem er es herausgezogen und den Inhalt ausgepackt hatte, ging er hinunter und schloß sich in seinem Zimmer ein, um nachzuprüfen, ob noch alles in Ordnung war. Dann nahm er seinen Umhang und verließ das Haus.

Er ging am Zaun des Pfarrgartens vorbei und nahm den Weg über die Felder. Als er das Wäldchen am Kanal erreicht hatte, wartete er darauf, daß es Mitternacht schlug.

Und als Schlag zwölf die Leute überall anfingen herumzuknallen, um das alte Jahr zu verabschieden, schoß auch er, im Abstand von ein paar Sekunden, einen Schuß nach dem anderen.

Dann marschierte er auf die Polizeistation.

Der Polizeichef war noch auf, und sobald Don Camillo ihn sah, sagte er:

«Hier ist das Ding, das Sie Maschinenpistole nennen. Fragen Sie mich nicht, woher es kommt, noch, wer es mir gegeben hat.»

«Ich frage Sie gar nichts», antwortete der Polizeichef. «Ich beschränke mich darauf, Ihnen für Ihre Hilfe zu danken. Ein gutes neues Jahr!»

«Ein gutes neues Jahr auch Ihnen und Ihrem inneren Polizisten», murmelte Don Camillo, zog den Umhang fester um sich und ging hinaus.

Aber es vergingen keine zehn Minuten, bis die Glocke der Polizeistation von neuem läutete. Der Maresciallo ging selbst, um zu öffnen, und beim Öffnen fiel ihm etwas Massives, Schweres, das von außen an die Tür gelehnt war, entgegen. Der Polizeichef hob den Gegenstand auf, an dem mit Draht ein Schild befestigt war.

Und auf diesem Schild stand mit Buchstaben, die aus der Zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren: Maschinenpistole, schuldig, einem Maresciallo das Leben gerettet zu haben.

«Am Stil erkennt man den Mann», sagte der Polizeichef grinsend zu sich selbst.

Dann legte er das Ding neben das andere, das kurz zuvor Don Camillo gebracht hatte, breitete die Arme aus und rief - ohne sich darum zu kümmern, ob das auch die Meinung des verstorbenen Togo gewesen sein könnte: «Zuviel der Gnade, heiliger Antonius von Padua!»